Das Thema Gewalt ist nicht nur in den Schulen, sondern auch auf dem Schulweg ein großes Thema. Konfrontationen zwischen Schülerinnen und Schülern beschränken sich nicht nur auf das Schulgelände. Ingo Rausch, der Präventionsbeauftragte des Polizeiabschnitts 48 der Polizei Berlin, spricht darüber, wie die Polizei die unterschiedlichen Arten von Gewalt präventionsorientiert angeht und welche Entwicklung aktuelle Zahlen widerspiegeln.
Herr Rausch, oft ist es ja gar nicht so leicht, an Schülerinnen und Schüler heranzukommen. Wie schaffen Sie es trotzdem klarzumachen, dass Gewalt an Schulen und auf dem Schulweg keinen Platz hat?
Unser Ziel ist es, mit den Schülerinnen und Schülern einen vertrauensvollen Dialog zu führen. In unseren Präventionsveranstaltungen stellen wir ihnen Beispiele vor, die wir gemeinsam besprechen. Dabei weisen wir sowohl auf mögliche Fehler als auch auf das richtige Verhalten in Gewaltsituationen hin. Oft kommen viele gute Ansätze auch von den Teilnehmenden selbst, denn letztendlich möchten alle in einer gewaltfreien Umgebung leben. Es fehlt jedoch oft an einem klaren Verständnis dafür, was Gewalt genau ist und wo sie beginnt.
Gibt es bei der Polizei ein spezielles Training oder Ausbildung für das Thema Gewaltprävention an Schulen?
Angehende Präventionsbeauftragte erhalten zu Beginn eine Basisqualifizierung, die sie sowohl inhaltlich als auch didaktisch-methodisch auf ihre zukünftige Arbeit mit den Zielgruppen Kinder, Jugendliche/ junge Erwachsene und Senioren vorbereitet. Dieses dauert 33 Tage und schließt Lehrproben mit ein. Weitere Fortbildungen zur kontinuierlichen Weiterentwicklung stehen zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es zahlreiche polizeiinterne Netzwerktreffen, die wertvolle Gelegenheiten zum Austausch und zur Erweiterung des Wissens bieten. Am Anfang steht jedoch bei jedem von uns die Begeisterung und Motivation, sich diesem wichtigen Thema zu widmen.
Die Vorbereitung und Nachbereitung der Präventionsveranstaltung, der Umgang mit dem Schulpersonal und den Eltern, die Netzwerkarbeit und die Präventionsarbeit außerhalb der Schulen, wie zum Beispiel die Arbeit mit der Zielgruppe Senioren, machen diese Tätigkeit innerhalb der Polizei Berlin zu einer besonders herausfordernden und interessanten Aufgabe.
Wo fängt Gewalt aus Ihrer Sicht an?
Gewalt beginnt oft mit der Bereitschaft, Konflikte zu provozieren oder auf Provokationen einzugehen. Ein unachtsamer Blick zur falschen Zeit oder zu einer falschen Person kann schnell zu einer Gewaltspirale führen. Worte, die eindeutig beleidigend sind, werden heute häufig im Spaß gesagt, bis die Stimmung kippt und die Situation eskaliert. Auch ein "spaßhaftes" Schubsen wird nicht immer als lustig empfunden und kann zu einer gewalttätigen Reaktion führen.
Gewaltvorfälle in Schulen betreffen Schülerinnen und Schüler aus allen sozialen Schichten. Begriffe wie „Hurensohn“ oder Ausdrücke wie „Ich ficke deine Mutter“ und „Ich ficke deine Toten“ sind im Schulalltag leider keine Ausnahme. Die Hemmschwellen für beleidigende Worte sinken mit der Häufigkeit des Gebrauchs. Empfundene Kränkungen und Ehrverletzungen können gerade unter Jugendlichen schnell zu körperlicher Gewalt führen. Jugendlichen fällt es entwicklungsbedingt oft schwerer gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien anzuwenden. Es erfordert Geduld, Selbstbeherrschung und Übung Konflikte auszuhalten und mit Gesprächen oder Hilfe beizulegen. Daher ist es umso wichtiger, dass Schülerinnen und Schüler möglichst oft an den Schulen auch Gelegenheit bekommen, gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zu erlernen und zu üben.
Der Konsum von Gewaltvideos und Pornografie, die über Smartphones und andere Geräte nahezu uneingeschränkt zugänglich sind, ist auch deshalb besonders problematisch, weil Gewöhnungseffekte gegenüber Gewalthandlungen eintreten können. Wenn Gewalt als normal empfunden wird, sinken womöglich die Hemmschwellen, selbst Gewalt anzuwenden. Hier sind vor allem auch die Eltern gefragt. Es ist ihre Aufgabe, den Medienkonsum ihrer Kinder zu kontrollieren und zu lenken.
Heutzutage können Straftaten ganz einfach mit Hilfe von medienfähigen Geräten begangen werden. Das Versenden von Bildern, Videos und Nachrichten per Handy geschieht mit einem einfachen Druck auf das Display, kann aber schwerwiegende Konsequenzen haben. Dies trifft auch auf sexuelle Inhalte zu, die über Handys verbreitet werden. Dazu gehört auch die ungewollte Verbreitung von Bildern anderer Schülerinnen und Schüler, wie z.B. Nacktbilder, die dann auch zu tatsächlicher körperlicher Gewalt führen. Um das Bewusstsein zu schärfen behandeln wir in unseren präventiven Angeboten das Thema Cybermobbing und den Umgang mit sozialen Medien.
Auch das Mitführen und Verwenden gefährlicher Gegenstände nimmt zu. Junge Menschen sagen uns oft, dass sie sich schützen wollen. Im Rahmen der Themenbezogenen Informationsveranstaltung "Messer machen Mörder" verdeutlichen wir, dass der erste Fehler darin besteht, überhaupt ein Messer bei sich zu tragen. Im Konfliktfall wird das Messer dann häufig eingesetzt. Eine Person, die ein Messer bei sich trägt, beraubt sich vernünftiger Optionen wie Hilfe zu holen oder sich der Situation durch einfaches Wegrennen zu entziehen. Diese trügerische Sicherheit führt dann zu weiteren Fehlern, wie das Ziehen des Messers und im schlimmsten Fall zur schweren Verletzung oder Tötung eines anderen.
Aufgrund dieser Entwicklungen haben wir im Polizeiabschnitt 48 ein "Jugendschutzteam" eingerichtet. Dieses Team besteht aus drei Mitarbeitenden, die Anzeigen nach Straftaten an Schulen aufnehmen und zeitnah nach der Tat normenverdeutlichende Gespräche mit den Täterinnen und Tätern führen. Diese Gespräche finden im Beisein mindestens eines erziehungsberechtigten Elternteils sowie der Schulsozialarbeit oder Lehrkräften statt und werden in kindgerechter Sprache geführt.
Ziel dieser Gespräche ist es, dass die Kinder oder Jugendlichen die Straftat nicht wiederholen und wir gemeinsam Wege erarbeiten, wie sie in ähnlichen Situationen gewaltfrei reagieren können, ohne Straftaten zu begehen. Außerdem bieten wir Unterstützung an und empfehlen nützliche Netzwerkpartner, die von den beteiligten Eltern oft gerne angenommen werden.
Das Jugendschutzteam ist eines von drei verschiedenen Modellen, welche derzeit insbesondere in Berlin Neukölln erprobt werden, um mit Interventionsmaßnahmen den Gewaltvorfällen an Schulen zu begegnen. In welcher Form diese Teams zukünftig eingesetzt werden, wird nach einer erfolgten Evaluation entschieden.
Raufereien unter Schülerinnen und Schülern gab es schon immer und gewaltbedingte Unfälle sind in der Schülerunfallversicherung in den letzten Jahrzehnten rückläufig. Welche Entwicklungen konnten Sie beobachten und warum ist Gewaltprävention in diesem Zusammenhang so wichtig? Gibt es aus Ihrer Sicht eine Zunahme von Gewalt oder hat sich die Art der Gewalt verändert?
Statistische Daten (s. Tabellen am Ende des Interviews, Anm. d. Red.) zeigen, dass es nach der Corona-Pandemie im Jahr 2022 einen sprunghaften Anstieg von Gewaltdelikten an Schulen gab. Im Jahr 2023 stieg die Anzahl der Taten weiter, jedoch etwas gemäßigter an. Hingegen nahmen die körperlichen Verletzungen bei Schülerinnen und Schülern im Jahr 2023 wieder leicht ab. Während der Corona-Pandemie sanken die Taten aufgrund fehlender Tatgelegenheiten. Durch den Lockdown und den Schulschließungen hielten sich viele Jugendliche nicht im öffentlichen Raum auf. Ein sprunghafter Anstieg war somit zu erwarten. Die Häufigkeit der Fälle ist im Vergleich zu vor der Pandemie nur geringfügig gestiegen.
Statistisch gesehen finden Rohheitsdelikte – begangen durch Kinder oder Jugendliche – am meisten an Wochentagen zur Mittagzeit statt. Dies lässt darauf schließen, dass die Konflikte in der Mittagspause oder zum Schulschluss ausgetragen werden.
Hierbei treten einfache, vorsätzliche Körperverletzungen überproportional auf. Daraus könnte sich ableiten lassen, dass die Konflikte im schulischen Kontext eher impulsiver Natur sind und als jugendtypisch einzuordnen sind.
Delikte, denen eine erhöhte kriminelle Energie zu Grunde liegt wie z.B. gefährliche Körperverletzung oder Raubtaten, sind hingegen seltener, bedürfen jedoch einer intensiveren und nachhaltigeren Intervention.
Gewalt hat auch auf dem Schulweg nichts zu suchen. Trotzdem: Auch Schulwege bieten leider viel Raum für Mobbing und Gewalt. Sicherheitsprobleme und Gefährdungsmomente treten für Schüler und Schülerinnen bei allen Beförderungsarten und Verkehrssituationen auf, so z.B. Sachbeschädigung, Drängelei und Schubserei an Haltestellen, Unhöflichkeiten und Pöbeleien etc. Wie lässt sich gerade hier Gewalt vorbeugen?
Die Gewaltbereitschaft muss in der Gesellschaft insgesamt deutlich abnehmen, insbesondere bei Schülerinnen und Schülern. Es ist uns bekannt, dass es im öffentlichen Raum rund um die Schulen und im öffentlichen Personennahverkehr häufig zu Auseinandersetzungen kommt. Wir versuchen, dem durch unsere Präsenz und Sichtbarkeit entgegenzuwirken.
Konflikte, die in der Schule oder über Kommunikationsmedien entstehen, werden oft mit Hilfe schulfremder Personen außerhalb der Schule gewalttätig fortgesetzt. Dies kann der Beginn von langanhaltenden und schwer überschaubaren Konflikten sein.
Eine größere Zivilcourage in der Bevölkerung wäre hilfreich, doch viele Menschen berichten von ihrer Angst, im Falle eines Einschreitens selbst verletzt zu werden. Ein weiterer Ansatz könnte eine verstärkte Videoüberwachung sein. Für diesen Einsatz sind vorher aber die rechtlichen Rahmenbedingungen vom Gesetzgeber zu schaffen.
Gibt es Unterschiede zwischen der Art der Gewalt im eher geschützten Klassenraum zur Gewalt auf dem Schulhof oder dem Schulweg?
Beleidigungen, Körperverletzungen und andere Vorfälle passieren sowohl in den Klassenräumen als auch auf den Schulhöfen und Schulwegen. Auf dem Schulweg bekommt die Schule diese Vorfälle oft nicht direkt mit. Schulfremde Personen mischen sich hier häufiger ein.
Es kommt nicht selten vor, dass schulfremde Personen in der Schule auftauchen, um „Sachen zu klären“, oft mit körperlicher Gewalt. Übergriffe auf Lehrerinnen und Lehrer finden hauptsächlich im Schulbereich statt, jedoch vereinzelt auch außerhalb der Schule oder über Kommunikationsmedien.
Welche Rolle spielen die Eltern? Was können sie unterstützend tun?
Eltern spielen eine entscheidende Rolle in der Erziehung und Sozialisierung ihrer Kinder. Sie tragen eine große Verantwortung, die weder die Schule noch die Polizei Berlin übernehmen kann. Die Grundlagen der Entwicklung eines jungen Menschen werden zu Hause gelegt. Leider erleben wir häufig, dass Kinder in einem von Gewalt geprägten Umfeld aufwachsen. Dazu gehört Gewalt zwischen den Eltern, Gewalt gegenüber den Kindern und auch die Vernachlässigung ihrer Bedürfnisse.
Kinder berichten uns oft, dass zu Hause niemand da ist, der ihnen bei den Hausaufgaben hilft. Manche Eltern können dies nicht, andere wollen es nicht. In einigen Familien werden mit den Kindern keine Hausaufgaben gemacht, es wird nicht über Erlebnisse in der Schule gesprochen und die Kinder werden vor den Fernseher oder die Spielkonsolen gesetzt, sind auf sich allein gestellt oder werden einfach auf die Straße geschickt. Wenn nötig, haben die Kinder ja noch das Handy.
Dies ist sicherlich nicht die Regel, aber wir hören es immer öfter von den Kindern oder dem Schulpersonal, welches die Kinder kennt.
Eltern sollten sich aktiv am Leben ihrer Kinder beteiligen, ihnen zuhören und viel Zeit mit ihnen verbringen. Gemeinsame Aktivitäten sind wichtig, wozu auch die Unterstützung bei den Hausaufgaben gehört. Vor allem sollten Eltern ihren Kindern ein gewaltfreies Leben vorleben.
Auch die Zusammenarbeit mit der Schule ist wichtig. Ein ständiger Austausch und die Mitarbeit der Eltern, etwa durch die Teilnahme an Elternabenden, sind entscheidend.
Wir wünschen uns auch, dass mehr Kinder in Sportvereinen aktiv werden, da sie dort Spaß haben und Regeln lernen. Dafür müssen die Eltern bereit sein, ihre Kinder gegebenenfalls zum Verein zu fahren. Auch dies kann eine schöne gemeinsame Zeit sein, in der Eltern soziale Kontakte im Vereinsleben knüpfen können.
Was raten Sie Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften?
Für Schulen in Berlin wurden über die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Notfallpläne entwickelt. Dort werden mögliche Konfliktfälle mit unterschiedlicher Brisanz aufgeführt und Empfehlungen aufgelistet, wie damit zu verfahren ist und wann die Polizei Berlin hinzugezogen werden sollte. In den Notfallplänen wurde auch festgelegt, dass in jeder Schule ein Kriseninterventionsteam aus Lehrkräften benannt werden soll.
Des Weiteren sind in fast allen Schulen Sozialarbeitende eingesetzt, die die Schulleitung ebenfalls beraten und unterstützen können. Auch die Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZ), welche von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie eingesetzt werden, stehen Schulleitungen und Eltern bei Bedarf beratend zur Seite.
Die oder der Präventionsbeauftragte des jeweiligen Polizeiabschnitts berät die Schulen ebenfalls und unterstützt darüber hinaus mit einem vielfältigen Angebot an Themenorientierten Informationsveranstaltungen (TIV-Angebote).
Da die Polizei Berlin immer nur punktuell in den Schulen auftritt, wäre es wünschenswert, dass die Personen, die kontinuierlichen Kontakt mit der Schülerschaft haben (Lehrkräfte und Erziehungspersonal), gut im Umgang mit Konflikten und Gewaltdeeskalation geschult wären.
Hierfür stehen in der jeweiligen Region sogenannte Nichtregierungsorganisationen (NGO) mit vielfältigen Angeboten zu Kompetenztrainings für Personal und auch für Schülerinnen und Schülern zur Verfügung.
Herr Rausch, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Gewaltdelikte an Schulen (Anzahl Fälle) | |
Jahr | Rohheitsdelikte |
2019 | 1.755 |
2022 | 2.344 |
2023 | 2.737 |
Quelle: PKS Berlin
Anzahl körperlich verletzter Schüler/Schülerinnen | |||
Jahr | leicht versetzt | schwer verletzt | gesamt |
2019 | 795 | 21 | 816 |
2022 | 1.184 | 22 | 1.206 |
2023 | 1.173 | 18 | 1.181 |
Quelle: PKS Berlin