"Die Pandemie führt zum Verlust von Tagesstrukturen, Kommunikation und sozialer Interaktion"

Das Bild zeigt Prof. Dr. Stephan Brandenburg, Hauptgeschäftsführer der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)

Prof. Dr. Stephan Brandenburg Hauptgeschäftsführer der BGW
Bild: Jan Haeselich

Interview mit Prof. Dr. Stephan Brandenburg, Hauptgeschäftsführer der BGW

Die Coronapandemie und ihre Folgen schränken die berufliche und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung stark ein. Im Interview mit DGUV Kompakt benennt Prof. Dr. Stephan Brandenburg, Hauptgeschäftsführer der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), grundlegende Probleme in der Behindertenhilfe. Er zeigt auf, welche Chancen durch Digitalisierung entstehen und wie Sport zu einer gelungenen Inklusion beiträgt.

Herr Prof. Dr. Brandenburg, die BGW versichert verschiedene Einrichtungen der Behindertenhilfe. Sie haben im Frühjahr 2021 mehrere Befragungen zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Menschen mit Behinderung und die Einrichtungen durchgeführt. Was sind Ihre Erkenntnisse?

Die Einschränkungen und deren Folgen trafen Werkstätten, Inklusionsbetriebe und Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation mit voller Wucht. Sie reichten von Besuchsverboten in bestimmten Wohnformen bis hin zu Auftragseinbrüchen. Die Hilfs- und Beratungsangebote der Behindertenhilfe waren auch betroffen. Ihre Einrichtungen benötigten eine intensive Unterstützung, um Betrieb, Betreuung und Arbeit auch in Pandemiezeiten aufrechtzuerhalten. Besonders während des Lockdowns hat sich die Pandemie gravierend auf die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und die Situation von Beschäftigten und Fachpersonal in diesem Bereich ausgewirkt: Wohnbereiche wurden phasenweise abgeschottet, Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte zum Teil stark eingeschränkt. Die Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) musste zeitweise vollständig heruntergefahren werden. Dies führte zum Verlust von Tagesstrukturen, Kommunikation und sozialer Interaktion. Auch am Arbeitsmarkt bewirkte die Pandemie eine Trendwende. Nachdem die Arbeitslosenquote von schwerbehinderten Menschen in den letzten Jahren gesunken ist, droht die Coronapandemie, vergangene Inklusionserfolge zunichte zu machen.

Häufig werden grundlegende Probleme in Krisenzeiten sichtbar. Wie steht es um die Behindertenhilfe in Deutschland?

Die Pandemie war und ist ein großer Stresstest insbesondere für die Berufsgesundheit, das heißt, wie kann unter Pandemiebedingungen trotzdem gesund und sicher gearbeitet werden? Generell waren die Ressourcen und Strukturen stark gefordert. In den Befragungen zeichnete sich jedoch auch eine mutige Bereitschaft zur Veränderung ab. So wurde die Coronapandemie auch als Chance für Innovationen genutzt – um sich weiterzuentwickeln, alte Abläufe und Strukturen zu überprüfen und diese gegebenenfalls anzupassen. Die in der Krise erlebte Fähigkeit Probleme zu lösen, führte bei Mitarbeitenden und Beschäftigten zu mehr Selbstbewusstsein.

Die Digitalisierung hat einen großen Schub bekommen. Ist sie auch eine Chance für Menschen mit geistiger Behinderung?

In der Arbeitswelt der Behindertenhilfe wurde das Thema Digitalisierung durch die Coronapandemie zwar beschleunigt, doch die Verbreitung von digitalen Technologien und Medien hängt stark von den Tätigkeiten oder vom Produktangebot eines Betriebes ab. Dabei spielen digitale Technologien in Inklusionsbetrieben eine größere Rolle als in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Weniger als ein Viertel der Befragten in Inklusionsbetrieben oder in Betrieben ohne spezielle Förderung für Menschen mit Behinderung sagten, sie fühlten sich durch die Digitalisierung überfordert. Bei den Beschäftigten in Behindertenwerkstätten waren es 38 Prozent. Man kann daraus ableiten, dass digitale Innovationen im Berufsumfeld für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die überwiegend in Behindertenwerkstätten tätig sind, eine Herausforderung bedeuten.


Das Bild zeigt eine Frau mit Behinderung.

Die Einschränkungen infolge der Pandemie treffen Menschen mit Behinderung mit voller Wucht.
Bild: stock.adobe.com/M.Dörr & M.Frommherz

Wo ist die Digitalisierung ein zusätzliches Hemmnis?

Grundsätzlich werden digitale Technologien als Chance gesehen. Unabhängig von ihrer Rolle in der Behindertenhilfe oder ihrer Beeinträchtigung stehen alle Interviewten der Digitalisierung offen, interessiert und neugierig gegenüber. Unstrittig ist jedoch, dass Digitalisierung Arbeitsprozesse komplexer macht. Das ist auch mit Risiken verbunden, denn dadurch erschwert sich die Arbeit in vielen Branchen – unter anderem auch in den Bereichen, in denen Menschen in WfbM und Inklusionsbetrieben tätig sind. Die Anforderungen an die Qualifikationen steigen und einfache Tätigkeiten werden teilweise abgebaut oder ins Ausland verlagert. Somit kann Digitalisierung auch zu einer Verringerung der Beschäftigungsmöglichkeiten führen – vor allem für Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen.

 

Die BGW engagiert sich sehr vielfältig für Menschen mit Behinderung. Neu ist die Kooperation mit Special Olympics Deutschland. Welche Ziele verfolgen Sie damit?

Als Berufsgenossenschaft haben wir ein besonderes Interesse daran, Inklusion in der Arbeitswelt zu unterstützen. Denn berufliche und gesellschaftliche Teilhabe nach Arbeits- und Wegeunfällen sowie nach Berufskrankheiten wieder zu ermöglichen, ist eine unserer zentralen Aufgaben. Um tatsächliche Inklusion zu erreichen, müssen soziale und kommunikative Hürden überwunden werden. Sportliche Aktivierung – das Kernziel von Special Olympics Deutschland – ist dafür ein wichtiger Schlüssel. Sport bedeutet einerseits gesellschaftliche Teilhabe, andererseits fördert er nicht nur Gesundheit, sondern auch das Selbstbewusstsein und die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen. Davon profitieren alle.


Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)

Die BGW ist die gesetzliche Unfallversicherung für nicht staatliche Einrichtungen im Gesundheitsdienst und der Wohlfahrtspflege. Sie ist für knapp 9 Millionen Versicherte zuständig, in 2020 waren darunter 456.901 Menschen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Inklusionsbetrieben und Beschäftigungsprojekten.

Vom Februar bis April 2021 befragte die BGW Menschen aus allen Bereichen der Behindertenhilfe über die Auswirkungen der Pandemie. Die Ergebnisse wurden in drei Berichten veröffentlicht.

Zu den Berichten