In einer Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) wurde die Achtsamkeit der Menschen im Straßenverkehr – im Vergleich zu anderen Lebensbereichen – am schlechtesten bewertet. Die Initiative #mehrAchtung, der auch der DVR angehört, will die Rücksichtnahme wieder in den Vordergrund rücken. Wie das gelingen kann und wie sich die Unfallzahlen entwickeln – darüber sprach DGUV Kompakt mit Stefan Grieger, Hauptgeschäftsführer des DVR.
Herr Grieger, in der Straßenverkehrs-Ordnung findet sich an zentraler Stelle der Satz: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ Warum braucht es trotzdem eine Kampagne für mehr Achtung im Straßenverkehr?
Zwischen einer Norm und der gelebten Wirklichkeit steht immer die Regelakzeptanz. Wir haben uns vorgenommen, diese Akzeptanz – die auch immer mit einer Einsicht zu tun hat – zu verbessern. Dass die Umgangsformen im Straßenverkehr manchmal zu wünschen übriglassen, ist kein neues Phänomen. Der DVR hat schon in den 1970er Jahren mit der „Hallo Partner-Dankeschön-Kampagne“ erfolgreich für ein besseres Miteinander im Straßenverkehr geworben. Wir hoffen, auch dieses Mal etwas Ähnliches bewirken zu können. Und es geht nicht nur um Bagatellen wie das Austauschen von Schimpfwörtern. Hier geht es um nichts Geringeres als Menschenleben. Jede Minute kam es im vergangenen Jahr auf unseren Straßen zu 4,5 Unfällen. Das sind mehr als 2,4 Millionen Unfälle. Wer sich ablenken lässt, alkoholisiert ist oder mit überhöhter Geschwindigkeit fährt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitmenschen. Im vergangenen Jahr wurden 2.788 Menschen bei Verkehrsunfällen getötet. Unser Ziel ist die Vision Zero. Wir möchten, dass alle ankommen – aber nicht umkommen.
Sind diese Unfallzahlen denn nur auf falsches Verhalten der Verkehrsteilnehmenden zurückzuführen?
Menschen machen Fehler. Das wird immer so sein. Diese Fehler dürfen aber nicht mehr zum Tod oder zu schweren Verletzungen führen. Mit der Vision Zero ist es gelungen, auch Fahrzeughersteller, Stadt- und Straßenplaner sowie andere Systemgestalter in die Verantwortung für die Sicherheit im Straßenverkehr einzubeziehen. Hier gibt es viele Ansätze, zum Beispiel sogenannte fehlerverzeihende Straßen, bei denen durch bauliche Maßnahmen Folgen eines Fehlverhaltens von Verkehrsteilnehmenden abgemildert werden. Dennoch hat jede und jeder Verkehrsteilnehmende eine Eigenverantwortung. Die Kampagne #mehrAchtung appelliert an die persönliche Haltung der Menschen. Respekt und Rücksicht helfen, Menschenleben zu retten. Wer einen anderen Menschen durch eigenes Verschulden Leid zufügt oder sogar seinen Tod herbeiführt, trägt dies ein Leben lang mit sich herum. Ist es da nicht viel besser, gegenseitig Rücksicht zu nehmen?
Die Unfallzahlen des Statistischen Bundesamts von 2022 zeigen, dass sich der Anteil der tödlich verunglückten Radfahrerinnen und Radfahrer seit 2000 fast verdoppelt hat. Was muss getan werden, um den nicht motorisierten Verkehr sicherer zu machen?
Neben unzureichenden Sichtbeziehungen ist eine mangelhafte Infrastruktur häufig mitursächlich für Unfälle mit Radfahrenden. Besonders an Kreuzungen und Einmündungen, beim Queren von Fahrbahnen sowie auf zu schmalen Radwegen kommt es auch aufgrund der Infrastruktur zu Unfällen. Wir fordern daher eine Modernisierung der Infrastruktur – gerade auch zugunsten der ungeschützten Verkehrsteilnehmenden. Aber auch hier spielt die gegenseitige Rücksichtnahme selbstverständlich eine Rolle.
Ist das nur ein Thema für Städte?
Nein, dies betrifft die ländlichen Räume genauso. Radfahrende sind relativ ungeschützt, sie haben keine „Knautschzone“. Jeder Unfall kann daher zu schweren Verletzungen führen. Nur zehn Prozent des Radverkehrs spielt sich gegenwärtig außerhalb geschlossener Ortschaften ab. Gleichwohl ereignen sich hier rund 40 Prozent der tödlich verlaufenden Unfälle. Nur ein Viertel aller Unfälle wird auf Landstraßen verursacht. Aber fast 60 Prozent aller Verkehrstoten sind dort zu beklagen. Eine Absenkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf engen Landstraßen wäre hier ein erstes geeignetes Mittel, um die Zahl der Verkehrsopfer zu reduzieren und die Schwere der Unfallfolgen zu senken.
Besonders gefährdet im Straßenverkehr sind auch Schulkinder. Können Eltern dazu beitragen, den Schulweg für sie sicherer zu gestalten?
Die Eltern können sehr viel beitragen. Zum Beispiel wäre es sinnvoll, dass sie mit ihren Kindern den Schulweg üben. Das Elterntaxi trägt eher dazu bei, den Schulweg für alle gefährlicher zu machen. Kinder, die immer zur Schule gefahren werden, lernen auch nicht, sich im Straßenverkehr zurechtzufinden. Auch die Ausstattung der Schulranzen und Kleidung mit Reflektoren leistet einen wichtigen Beitrag, besonders in der dunklen Jahreszeit. Nebenbei: Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nach wie vor das sicherste Verkehrsmittel, um in die Schule zu kommen.
Ganz aktuell bringt die Bundesregierung ein Gesetz für die Legalisierung von Cannabis auf den Weg. Was hat das für Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Teilnahme am Straßenverkehr nach Cannabiskonsum zu einem erhöhten Unfallrisiko führt. Cannabis kann die Fahrtüchtigkeit, insbesondere durch kognitive Wirkungen, massiv beeinträchtigen. Wer unter Einfluss dieser Droge fährt, riskiert sein Leben und das Leben Unbeteiligter. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Auswirkungen des Cannabiskonsums auf die Verkehrssicherheit in ihre geplante Informationskampagne aufzunehmen. Im Straßenverkehr gilt: Wer kifft, fährt nicht. Und wer fährt, kifft nicht. Rauschmittel haben im Straßenverkehr nichts verloren. Dies gilt genauso für Alkohol.
Webseite des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR)
Verkehrssicherheitsinitiative #mehrAchtung